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Kommentar
Ein Beitrag von Andreas Köhnemann, Joachim Kurz
Die Meinungen unserer Kritiker*innen können weit auseinandergehen, und das ist auch gut so. Wir stellen zwei Positionen zu „Kinds of Kindness“ gegenüber: Andreas Köhnemann lobt, dass in jedem Bild eine interessante Irritation wartet, während Joachim Kurz bemängelt, dass man all das von Lanthimos schon mal stringenter und aufrüttelnder gesehen habe.
Meinungen
Disney
Die Meinungen zu Kinds of Kindness in unserer Redaktion gehen auseinander.
Grausame Güte
Emma Stone blickt schwermütig ins Nichts. Sie spielt eine Frau namens Liz – oder womöglich eher ein Wesen, das nur vorgibt, Liz zu sein. So genau können wir das nicht sagen. Sie hält einen Monolog über Hunde und Autorität, Hunger und Verzweiflung, Genügsamkeit und Einsicht. Es würde zu weit führen und zu viel verraten, die inhaltlichen Details dieser Worte zu erklären und die Situation dieser Figur näher zu beschreiben. Was sich indes mit Gewissheit sagen lässt: Es ist alles höchst absurd und ziemlich abstrakt, was hier erzählt wird – und zugleich ist dies einer von zahlreichen Momenten in Yorgos Lanthimos’ neuem Werk Kinds of Kindness, der die Stärke des griechischen Filmemachers und seines Co-Autors Efthymis Filippou perfekt erfasst. Denn es gelingt den beiden (immer wieder), in der völligen Abstraktion, in den bizarrsten Tiefen etwas Menschliches zu entdecken und offenzulegen.
Von einer Rückkehr des Regisseurs zu seinen weniger zugänglichen Wurzeln ist im Zusammenhang mit Kinds of Kindness in etlichen Besprechungen die Rede. Und das ist einerseits absolut zutreffend. Seine zwei zuvor entstandenen Filme machten es uns bei aller Experimentierfreude und Garstigkeit deutlich leichter, sie zu mögen. In The Favourite (2018) wird wild intrigiert; das Ganze lässt sich jedoch recht stimmig als feministische Aneignung des Historienkinos interpretieren. Poor Things (2023) ist ausufernd und zuweilen grotesk in seiner Form, lässt uns mit seinem klaren Empowerment-Narrativ aber jederzeit wissen, auf wessen Seite wir stehen. Dies ist nun, wie schon in Lanthimos’ früheren Arbeiten, die in Kollaboration mit Filippou entstanden, anders. Die Geschichten und ihr Personal sind von unauflösbarer Ambivalenz durchzogen; in jedem Bild wartet eine Irritation, die sich nicht beseitigen lässt.
Andererseits greift es entschieden zu kurz, Kinds of Kindness einfach als Mash-up früherer Ideen des Duos abzutun. Lanthimos und Filippou knüpfen erkennbar an Motive aus Dogtooth (2009) und Alpen (2011), The Lobster (2015) und The Killing of a Sacred Deer (2017) und an deren sperrige Anmutung an, entwickeln diese allerdings auf sehr überraschende und spannende Weise weiter.
In der ersten von drei Episoden, aus denen der Film sich zusammensetzt, geht es um Fremd- und Selbstbestimmung. Robert (Jesse Plemons) erhält von seinem Chef Raymond (Willem Dafoe) seit Jahren Instruktionen, die bis ins Kleinste vorgeben, wie er seinen Alltag zu leben hat. Als er bei einer grenzüberschreitenden Aufgabe erstmals die Durchführung verweigert, droht alles aus den Fugen zu geraten. Wie hier Kontrolle ausgeübt und Manipulation betrieben wird, lässt an die verstörenden Geschehnisse in Dogtooth denken. Wenn Gespräche wie bei einer Theaterprobe mehrmals begonnen und variiert werden, erinnert das an die unbeholfene Art, wie die Figuren in Alpen zwischenmenschliche Momente zu imitieren versuchen.
Und doch liegen die Dinge in diesem Einstiegssegment von Kinds of Kindness anders als in den bisherigen Lanthimos/Filippou-Erzählungen. Robert ist im Gegensatz zu den Kindern in Dogtooth kein Opfer einer monströsen Täuschung, sondern ein Mensch, der sich bewusst in die Abhängigkeit begeben hat. Aus dem Machtmissbrauch, dem die jungen Held:innen schutzlos ausgeliefert sind, ist eine faschistoide Beherrschung geworden, der sich der erwachsene Protagonist aus freien Stücken, vermutlich aus Angst und aus Bequemlichkeit unterwirft. Was sagt das über unsere Zeit aus? Sicher nichts Gutes.
Überdies begreift Robert die Mimikry, die er mit seinem strengen Boss und dessen Gefährtin (Margaret Qualley) verrichtet, als sein wahres (und einziges) Leben. Während beim Scharadespiel in Alpen die Skurrilität überwiegt, ist in den Szenen zwischen Plemons, Dafoe und Qualley jederzeit die Dringlichkeit und die Not eines Strauchelnden zu spüren. Dadurch wird auch die extreme Kälte, die The Killing of a Sacred Deer durchdringt, vermieden: Was wir hier beobachten, ist kein filmischer Laborversuch mit schrecklichen Menschen, die schreckliche Dinge tun – sondern Schmerzkino, das uns bewusst darüber rätseln lässt, wie wir uns zum Gezeigten verhalten, was wir denken und fühlen sollen.
Dies prägt auch die zweite und dritte Episode von Kinds of Kindness, in denen einige Cast-Mitglieder (neben den genannten noch Hong Chau, Mamoudou Athie und Joe Alwyn) in jeweils neuen Rollen auftauchen, wohingegen Yorgos Stefanakos als eine Figur namens R.M.F. die einzige klare Konstante innerhalb der fiktiven Welt bildet.
Ist die plötzlich zurückgekehrte Liz (Stone), die als verschollen galt, wirklich die echte Gattin des skeptischen Polizisten Daniel (Plemons)? Welche seltsamen Wege schlägt Emily (Stone) ein, um mit einer tragischen Erfahrung umzugehen? Und was hat der Sektenführer Omi (Dafoe) damit zu tun? Es kommt zu Happy Ends, in deren Happiness etwas zutiefst Bitteres liegt. Es ereignen sich blutige Akte der Selbstlosigkeit, die uns sämtliche Gut/Böse-Schemata infrage stellen lassen. Kontrolle kann in rabiate Gewalt kippen, auf Traurigkeit kann Pop in Gestalt einer Tanzeinlage zu Cobrahs Brand New Bitch folgen – wiederum abgelöst von herber Ironie, die alles umwirft.
In Kombination mit den betont unbehaglichen Klängen des Komponisten Jerskin Fendrix und den Breitbildformat-Kompositionen des Kameramanns Robbie Ryan setzt Lanthimos seine künstlerische Handschrift fort – und fügt ihr neue Ecken und Kanten hinzu. Wir können in Kinds of Kindness viele etablierte Muster wiedererkennen, sollten aber auch „ready for the new“ sein. Dieser Film will es uns nicht leicht machen – doch er scheint zu rufen: „Wanna join in? You just watch me!“
Wertung: 4,5 von 5 — von Andreas Köhnemann
Ein Kaleidoskop menschlicher Unzulänglichkeiten
Zugegeben: Poor Thingsist jetzt nicht gerade das, was man früher als Mainstream-Kino aus Hollywood verstand. Andererseits zeugen der internationale Erfolg des Films mit einem Gesamtumsatz von 113 Mio. US-Dollar und bedeutende Filmpreise wie der Goldene Löwe von Venedig, ein Golden Globe als beste Komödie und insgesamt vier Oscars immerhin von einer gewissen Anschlussfähigkeit an den Geschmack eines breiteren Publikums und der eher konservativeren Jury-Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences.
Lanthimos’ Aufstieg in die höheren Weihen eines Publikumsmagneten ist fest verknüpft mit dem Namen des australischen Drehbuchautors Tony McNamara, der neben dem Skript zu Poor Things auch das für The Favourite (2019) schrieb. Insofern ist es schon ein Zeichen, dass Lanthoimos für seinen neuen Film zu seinem anderen langjährigen Mitstreiter Efthymis Filippou zurückkehrt, mit dem er von Dogtooth über Alpen, The Lobster bis hin zu The Killing of a Sacred Deer zusammenarbeitete. Und ja – diese andere Herangehensweise, diese ganz eigene und unverwechselbare Handschrift merkt man Kinds of Kindness auch deutlich an.
Drei einzelne Episoden von jeweils rund einer Stunde Dauer bilden das Grundgerüst von Kinds of Kindness. Eingeführt und zusammengehalten wird das Ganze von einer Figur namens R.M.F. (Yorgos Stefanakos), dem identischen Cast in allen drei Geschichten und dem gemeinsamen Handlungsort in und um New Orleans. Dieser R.M.F. bringt gleich in der ersten Episode das Geschehen ins Rollen, weil er Opfer eines fiesen Anschlags werden soll. So zumindest hat es Raymond (Willem Dafoe) im Sinn, der als autoritärer Boss nahezu uneingeschränkt über seinen Untergebenen Robert (Jesse Plemons) herrscht und diesem bis in die kleinsten Verästelungen des Privatlebens hinein Aufgaben stellt, die jener erfüllen muss, um sich die Gunst des Chefs zu erhalten. Das Frühstück, der eheliche Geschlechtsverkehr mit der von Raymond ausgesuchten Ehefrau (Hong Chau), die nichts von den perfiden Spielen weiß, das Haus, in dem er wohnt – all das wurde von Raymond festgelegt. Widerspruch zwecklos!
Das ändert sich erst, als Robert den ersten Auftrag, R.M.F.s dunkelblauen BMW zu rammen, nach Raymonds Auffassung nicht gut genug ausführt. Und so soll er das Ganze noch einmal versuchen, dieses Mal aber mit höherer Geschwindigkeit und damit potenziell lebensgefährlich, was dann selbst für den braven Angestellten zu viel ist. Seine Weigerung aber stellt das ohnehin bereits diffizile Verhältnis zu Raymond erst recht auf die Probe.
20th Century Studios
In diesem Stil und mit ähnlich kaltschnäuzig-taxierendem Tonfall, gelegentlichen Zoten und jeder Menge überraschender Wendungen geben sich auch die weiteren Episoden, in denen neben Plemons, Chau und Dafoe auch Emma Stone, Margaret Qualley und Mamoudou Athie als Konstanten des schrägen und völlig durchgeknallt agierenden Ensembles auftauchen.
Wie in der Story der ersten ist der Cast auch in den anderen Episoden bloße Rangiermasse in den Händen von Lanthimos und Filippou, die mit sichtbarem Vergnügen und einer gehörigen Portion Sadismus gegenüber ihren Darsteller*innen, diese in absurde, grausige, lustige, dann aber auch wieder eklige Szenen hineinmanövrieren. Nur um sich dann mit ebenso großer Freude daran zu ergötzen, wie diese versuchen, Laborratten ähnlich, aus dem Schlamassel herauszufinden, den das Drehbuch und die Regie für sie angerichtet haben.
Das hat zwar einen gewissen Unterhaltungswert und dank der konfusen Unvorhersehbarkeit, die die Geschichten auszeichnet, auch erhebliche Spannungsmomente, allerdings sollte man inhaltlich keinen roten Faden erwarten. Außer vielleicht jenen, denn der Opener-Song Sweet Dreams von den Eurythmics textlich vorgibt: „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want to be abused.“
Sucht man nach einem gemeinsamen Thema der drei Geschichten, die ein wenig so wirken, als hätten Lanthimos und Filippou verworfene Ideen von einst wieder hervorgekramt und miteinander kombiniert, dann ist der Song kein allzu schlechter Hinweis. Kinds of Kindness ist ein Kaleidoskop der menschlichen Unzulänglich- und Abhängigkeiten: bunt, überraschend und definitiv sehr verwirrend. Einen Reim muss sich abschließend jede/r selbst darauf machen. Ob das Ausmaß der Verwirrung neue Erkenntnisse gebiert oder einfach nur dezente Langeweile, weil man das Gefühl hat, all das von Lanthimos schon einmaldeutlich stringenter und aufrüttelnder gesehen zu haben – nun, das bleibt in der Schwebe.
Wertung: 3 von 5 — Joachim Kurz